RÜCKBLICK
1851-1870: Stahlrösser vor dem Brandenburger Tor
von Gernot Schaulinski
Berlin im Herbst 1851: Entlang der Stadtmauer fliegt eine Dampfwolke zu den Kopfbahnhöfen der preußischen Kapitale. So gut wie unsichtbar rollt die Eisenbahn ihren weit auseinander liegenden Zielen entgegen. Die schnaufende Lokomotive erscheint den Bewohnern nur kurz in Mauerlücken, dort wo die Hauptstraßen auswärts führen. Fast könnte der Eindruck entstehen, der Quadriga seien die Stahlrösser durchgegangen, wenn der Zug vorm Brandenburger Tor den Fuhrwerken und Passanten in die Quere kommt.
Preußen hatte sich lange Zeit mit dem teuren Eisenbahnbau schwer getan, denn die benötigten Geldmittel konnten ohne Zustimmung der Ständeversammlung nicht aufgebracht werden. Um deren Einfluss auf die königliche Politik so gering wie möglich zu halten, investierte der Staat weiter in den Straßenbau. Spät, im Vergleich zu anderen deutschen Ländern, ging im September 1851 Preußens erste staatliche Eisenbahnstrecke mit ganzen 10 km Länge in Betrieb. Sie verlief in weitem Bogen zwischen Stettiner Bahnhof im Norden und dem östlich gelegenen Frankfurter Bahnhof. Dabei folgte das Gleispaar dem westlichen und südlichen Stadtrand und verband auch den Hamburger, Potsdamer und Anhalter Bahnhof miteinander. Diese Anlagen waren von Privatgesellschaften in den 1840ern errichtet worden, als in Deutschland das aus England kommende "Eisenbahnfieber" grassierte. Überall entstanden damals neue Gleisverbindungen, in Preußen zuerst von Berlin nach Potsdam (1838), dann sternförmig Richtung Wittenberg, Stettin, Frankfurt/Oder, Hamburg und Magdeburg. Als Finanziers dieser Strecken besaßen die Eisenbahnunternehmen in Berlin eigene Kopfbahnhöfe ohne Verbindung zur Konkurrenz. Sollten mit dem Zug eingetroffene Güter weiter über Berlin hinausgelangen, mussten sie zuerst auf Pferdefuhrwerke umgeladen und zur nächsten Station gekarrt werden. Über den zeitaufwendigen Transport klagte bald das Militär – die königliche Regierung nahm sich des Problems an. So entstand auf Staatskosten die "Verbindungsbahn", die an den Kopfbahnhöfen Waggons über Drehscheiben aufnahm.
Mit der Industrialisierung entwickelte sich Berlin vom verschlafenen Residenzstädtchen zur pulsierenden Großstadt; schon bald herrschte Wohnungsmangel und die Mieten stiegen. Das noch ländlich geprägte Umland gewann dadurch an Attraktivität – Ortschaften wie Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg und Rixdorf (seit 1912 Neukölln) boten tausenden von Zuwanderern eine neue Heimat. Arbeit fanden sie in Berlin, durch dessen Stadttore alltäglich Menschenmassen und Fahrzeugkolonnen ein- und ausströmten. Die kreuzende Verbindungsbahn störte den Straßenverkehr dabei in gleichem Maße, wie dieser die Züge behinderte. Je schneller die Stadt wuchs, desto drängender stellte sich die Frage nach einer alternativen Streckenführung.
In der Regierung hatte sich inzwischen die verhaltene Einstellung gegenüber der Eisenbahn gewandelt. Als mögliches Transportmittel im Kriegsfall wurde ihr hohe strategische Bedeutung beigemessen. Deshalb nahm der Staat nun direkten Einfluss auf den Netzausbau und beteiligte sich an der "Deutschen Eisenbahn-Baugesellschaft", die den Auftrag erhielt, eine neue Verbindung zwischen den Berliner Gleisanlagen zu schaffen. Die DEBG schlug eine ringförmige Bahntrasse vor, mit Abstand von zwei bis drei Kilometern zur Stadt und ihren Vororten. Alle kreuzenden Verkehrswege sollten über- oder unterfahren werden können, zu den bestehenden Strecken waren Anschlusskurven geplant. 1867 begannen die Bauarbeiten zur "neuen Verbindungsbahn", die später als "Ringbahn" berühmt werden sollte.