PRENZLAUER ALLEE

Ornament und Verbrechen

von Gernot Schaulinski

Gleich einem Schlösschen thront das neoromanische Empfangsgebäude über der tiefen Gleisschlucht an der Prenzlauer Allee. Ein langer Treppenaufgang führt vom Bahnsteig hinauf in die mit Klinker-Ornamenten geschmückte Halle. Hoch oben schwebt ein mächtiger Hängeleuchter und wirft sanftes Licht auf die darunter durcheilenden Passanten. Selten findet sich ein so gut erhaltenes Bauwerk aus vergangener Ringbahnzeit – 1892 wurde die Station eingeweiht, aber vom Augenschein her könnte es auch gestern gewesen sein.

Was heute in seiner Verspieltheit entzückt, galt den Architekten der Weimarer Republik als Verbrechen. ‚Weg vom Ornament hin zu klaren Formen' lautete die Devise des Neuen Bauens. Nicht mehr der schöne Zierrat, sondern die Menschen mit ihren alltäglichen Bedürfnissen sollten im Mittelpunkt der Architektur stehen. Einer der Hauptvertreter dieser Richtung war Bruno Taut, der Ende der 20er Jahre nur wenig entfernt von der Prenzlauer Allee die „Wohnstadt Carl Legien" plante und baute. Entlang der Erich-Weinert-Straße stehen die eleganten Häuserriegel nebeneinander gereiht, dazwischen Grünflächen mit altem Baumbestand. Die sandfarbenen Hausfassaden sind mit Fenster- und Türrahmen in rot, blau und grün schlicht akzentuiert. Welch ein Kontrast zu den Altbauvierteln mit ihren stukkatierten Vorderseiten und engen Hinterhöfen! Seit 2008 steht die Wohnanlage als eine von sechs „Siedlungen der Berliner Moderne" auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes.

Das Empfangsgebäude der Ringbahn lag bis 1984 im Schatten zweier mächtiger Gasometer, die unter Anwohnerprotesten für den Neubau des Ernst-Thälmann-Parks gesprengt wurden. An ihrer Stelle glänzt seitdem die Aluminiumkugel des Zeiss-Großplanetariums. Im Innern zaubert der „Cosmorama"-Projektor gut 10.000 Sterne als Himmelsschmuck auf die im Dunkeln liegende Betonwand. Das größte Planetarium Deutschlands war zu DDR-Zeiten ein Sternenpalast der Republik. Hier herrschte reger Publikumsandrang, lockte doch die uneingeschränkte Reisefreiheit durch die Weiten des Weltraums. Der Stolz auf den Prestigebau ist der Belegschaft noch heute anzumerken. Großer Beliebtheit erfreut sich seit einigen Jahren das „Hörspielkino unterm Sternenhimmel". Bei Douglas Adams „Per Anhalter durchs die Galaxis" hing das Publikum stoned in den Sesseln oder räkelte sich auf dem Fußboden. Das Haus unterließ es, weitere Folgen des Mehrteilers vorzuführen.

Gleich neben diesem Ort künstlicher Höhenflüge tun sich Abgründe deutscher Geschichte auf: „wer verschwand im Keller? ... wer hörte nachts die Schreie? ... wohin traf der erste Schlag?" – diese und weitere Fragen reihen sich auf einer schwarzen Leiste, die rund um das Eckgebäude an der Fröbelstraße verläuft. Das Kunstwerk „fragen" von Karla Sachse erinnert seit 2005 an die Verbrechen, die hier begangen wurden. Ursprünglich gehörte der Bau zum „Hospital und Siechenhaus", einer Musteranlage der städtischen Gesundheitsversorgung. Im Keller richtete der stalinistische Geheimdienst NKWD im Mai 1945 ein Gefängnis ein, in dem wirkliche und angebliche Gegner der sowjetischen Besatzungsordnung verhört und gefoltert wurden. Dazu gehörten ehemalige Nazis wie auch Demokraten, bekennende Christen, sogar Kommunisten und vollkommen Unbeteiligte. Von diesem Keller aus begann für die meisten von ihnen eine Reise ohne Wiederkehr durch das Lagersystem der Sowjetischen Besatzungszone. Später nutzte die Stasi das Gelände für ihre Berlin-Observation.

An der Ringbahnstation drängt sich Geschichte auf kleinstem Raum: Das große Altbauviertel im Südwesten erzählt von der verschwundenen DDR-Bohème, im Nordosten zeugen die Bauten der späten 20er Jahre von der Innovationskraft einer untergehenden Republik, im Südosten birgt das frühere Krankenhaus einen Folterkeller des Stalinismus, und dahinter erheben sich die Hochhäuser des Ernst-Thälmann-Parks für die treuesten Genossen. Wer sucht, der findet an der Prenzlauer Allee Ornamente und auch Verbrechen.

Zurück