JUNGFERNHEIDE

Auf der Suche nach dem Ursprung

von Gernot Schaulinski

Ankunft mit der Ringbahn ... suchend wandert der Blick umher: Wo sind die Jungfern, und wo ist die Heide? Die grellbunt gekleideten Mädchen im Bahnhofsdurchgang haben mit der Namensgebung nichts zu tun, und die um maskulines Auftreten bemühten Jungs möchte man gar nicht erst fragen. Passanten eilen vorüber, im nördlichen Ausgang praktiziert eine Gruppe das, was in der Alkoholwerbung unter fröhlicher Geselligkeit firmiert. Die improvisierte Stehkneipe dient mit ihrer Rundumkachelung zugleich als Ausnüchterungszelle. Auch hier keine Antworten: es gilt also selbst auf Erkundung zu gehen.

Nach Südwesten hin liegt ein ruhiges Wohngebiet mit lebhafter Geschichte, denn an der Osnabrücker Straße, Ecke Tegeler Weg, thront das Berliner Landgericht. Diese neo-romanische Trutzburg wurde 1968 zum Ausgangspunkt wüster Krawalle, bekannt als „Schlacht am Tegeler Weg“. Bevor der Rechtsanwalt Horst Mahler zum Neonazi mutierte, engagierte er sich für die linke Studentenbewegung und sollte dafür mit einem Berufsverbot belegt werden. Zum Prozesstermin am 4. November erschienen nicht nur Mahler und seine Anwälte, sondern auch hunderte Demonstranten. Die Menge versuchte Polizeiabsperrungen zu durchbrechen, Tränengas und Wasserwerfer kamen zum Einsatz. Auf einer nahen Baustelle fanden sich genug Wackersteine, um die Rangelei zur Schlacht ausarten zu lassen.

Entlang des Tegeler Wegs fließt die Spree, die den Park des Schlosses Charlottenburg nach Osten hin begrenzt. Parallel zur Ringbahnstrecke und nur wenige Schritte von der Station entfernt, ermöglicht eine Fußgängerbrücke den Sprung ins preußische Gartenparadies. Besucher können hier zwischen Karpfenteich und Fasanenwiese königlich flanieren, eine Heide finden sie nicht. Früher touristischer Hotspot im geteilten Berlin, führt die Schlossanlage heute eine Randexistenz in der öffentlichen Wahrnehmung – zu Unrecht. Der Park ist einer der schönsten der Stadt und das Barockschloss birgt, ebenso wie die Museen rundum, exquisite Kunstschätze.

Doch wo sind nun die Jungfern und die Heide? Spurensuche Richtung Nordosten: nahe der Station schraubt eine Betonspirale die Fußgänger hinauf zur Brücke über Kanal und Stadtautobahn. Welch ein Ausblick! Die Ringbahn im Rücken, den brausenden Verkehrsstrom unter den Füßen, offenbart sich dem Auge ein Hüttenmeer bis zum Horizont. Jungbrunnen, Alpenrose oder Bienenheim heißen einige der zahllosen Laubenpieper-Kolonien; ihre Namen stehen für die Sehnsucht nach einem Großstadtidyll. Anfang des 19. Jahrhunderts noch als „Armengärten“ bezeichnet, dienten die Anlagen zunächst der Selbstversorgung, bevor sie während der Industrialisierung als Erholungsraum entdeckt wurden. Aus den dunklen steinernen Mietskasernen flohen die Proletarier auf ihre grüne Parzelle. Mitte der 20er Jahre gab es in Berlin 165.000 Kleingärten, inzwischen hat sich ihre Zahl mehr als halbiert. Dabei ist ein Trendwandel beobachten, weg von der Gartenzwergmentalität hin zum Bio-Pächter aus dem Szenebezirk.

Nach einer Wanderung durch die Kolonien Richtung Norden stößt der Suchende am Heckerdamm auf das Kloster Karmel Regina Martyrum. Hier leben sie also, die Jungfern! Es sind Nonnen vom Orden der Karmelitinnen, die sich besonders dem Gedenken an die Opfer der nahen NS-Hinrichtungsstätte Plötzensee verschrieben haben. Nur verdankt die gesuchte Heide ihren Namen nicht diesen frommen Schwestern, sondern den Benediktinerinnen vom früheren Kloster Spandau. Bis zu dessen Säkularisierung 1558 unterstanden ausgedehnte Wald- und Heidegebiete ihrer Obhut. Zum Volkspark umgestaltet liegt ein Teil davon am westlichen Heckerdamm. Wo früher preußische Könige zur Jagd ausritten, entstand in den 20er Jahren Berlins größte Parklandschaft nach dem Tiergarten. Dichter Wald und weite Wiesen erwecken den Eindruck märkischer Naturschönheit. Ob Nonnen, 68er und Laubenpieper, Schlossgarten, Volkspark oder Gartenkolonie – die Suche hat sich gelohnt.

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