GESUNDBRUNNEN
Grau zu Grün
von Gernot Schaulinski
"Rechter und linker Hand begrüßen uns auf der ganzen Strecke freundliche Obstbaumplantagen, wir überschreiten beim Weiterfahren die 'Schwedter Straße' [...] und langen am Bahnhofe 'Gesundbrunnen' an." – So malerisch wie im 1883 erschienenen Ringbahn-Reiseführer von Emil Dominik präsentiert sich die Strecke von der Schönhauser Allee gen Westen schon lange nicht mehr. Mietshäuser zeigen ihre blanke Rückseite, die Fahrt führt über ein Gleisdreieck mit Spontanvegetation, kurz dahinter grüßt ein Sozialbetonbau die Reisenden. Dagegen wirkt der Fern- und Regionalbahnhof Gesundbrunnen zum Wedding hin wie ein Parkeingang. Mit dem Frühjahr haucht der benachbarte Humboldthain dem Begriff „Großstadtdschungel" eine ganz neue, blühende Bedeutung ein.
Die Station Gesundbrunnen bietet dem Ringbahnflaneur architektonische Kontraste. Säulen im grünen Marmor-Look, Backstein- und Klinkerverkleidungen im Stil der Neuen Sachlichkeit – edel geht es auf dem Bahnsteig zu. Eine Fahrt hinauf mit der Rolltreppe endet dagegen im Nichts einer gewaltigen Betonplatte, auf der die DB in den 1990ern den Bau einer repräsentativen Bahnhofshalle plante. Aus Kostengründen beließ es das Unternehmen dann bei schlichten Pavillons. Ein kleiner Markt aus Imbissbuden, Obst- und Gemüseständen versucht etwas Farbe auf die graue Fläche zu bringen. Zwei riesige Einkaufstempel flankieren die Szenerie. Warum nur heißt dieser Ort Gesundbrunnen?
Die pulsierende Badstraße führt nach Norden zum eigentlichen Gründungsort des Stadtviertels am Flüsschen Panke. In dessen Nähe fand sich Anfang des 18. Jahrhunderts eine Quelle, die besondere Eigenschaften besaß. Wollten gut 200 Jahre später deutsche Ausflugsziele mit Tradition glänzen, dann verwiesen sie gerne auf angebliche Besuche der Nibelungen oder Johann Wolfgang von Goethes; im Märkischen übernahm diese Rolle Friedrich der Große. Ihm selbst soll bei einem kräftigen Schluck Quellwasser dessen Eisengehalt aufgefallen sein – nähere Untersuchungen ergaben eine heilende Wirkung. Mit Geldern des Königs entstanden daraufhin Kureinrichtungen als „Friedrichs-Gesundbrunnen".
Nach einem Besitzerwechsel zum „Luisenbad" umbenannt, entwickelte sich die Heilquelle mit Beginn des 19. Jahrhunderts zum beliebten Treffpunkt des städtischen Bürgertums. Die „Colonie Luisenbad" rund um den Gesundbrunnen hätte das Baden Baden Berlins werden können. Doch mit der fortschreitenden Industrialisierung siedelten Fabriken und Gerbereien an den flachen Ufern des Flüsschens, das unter Einheimischen bald den Namen „Stinke-Panke" trug. Die Voraussetzungen für einen Bäderbetrieb der gehobenen Kategorie waren nicht mehr gegeben. Stattdessen zogen Biergärten, Amüsierlokale und Theater breite Schichten der Berliner aufs Land. Gesund ging es hier nicht zu, dafür umso lebendiger – ein Ruf, den die Gegend bis heute bewahrt hat.
Aus dem ländlich grünen Gesundbrunnen entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein dicht bebautes graues Industrie- und Arbeiterviertel. Heute leben hier Menschen aus über 80 Nationen mehr neben- als miteinander, das positive multikulturelle Image Kreuzbergs fehlt dem Quartier. Auch die frisch sanierten Straßenzüge, die zahlreichen Trendläden und Szenebars wie sie den benachbarten Prenzlauer Berg prägen, sucht man hier vergebens. Rund um die Station Gesundbrunnen sind es eher die Nischen, die zu einem Besuch reizen. Bei näherer Betrachtung des Quartiers wird Grau dann auch schnell zu Grün. Ob Volkspark Humboldthain, Gartenstadt Atlantic, die Grünbergerstraße mit ihrer langen Parkzunge oder bewaldete Hinterhöfe – ein idyllisches Pflaster ist der Gesundbrunnen zwar nicht, dafür findet sich viel Großstadtromantik auf den zweiten Blick.